Dr. Stefan Mühlhofer
Wissenschaftlicher Leiter der Mahn- und Gedenkstätte Steinwache
Grußwort Gründonnerstag 2009
Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde des Internationalen Rombergparkkomitees,
ich begrüße Sie heute hier als wissenschaftlicher Leiter der Mahn- und Gedenkstätte Steinwache und freue mich, dass sie auch in diesem Jahr ihre traditionelle Zusammenkunft am Gründonnerstag in der Steinwache veranstalten. Ich bin gebeten worden, ein Grußwort an Sie zu richten. Dem komme ich gerne nach und möchte kurz ein paar Gedanken zum Thema „Gedenkstättenarbeit heute“ vortragen.
Die Bundesrepublik Deutschland hat sich – wie wir alle wissen – schwer getan mit der Aufarbeitung der NS-Zeit. Dies lässt sich unter anderem auch in der Geschichte der Gedenkstätten in unserem Land ablesen. Sieht man vom 1952 eingerichteten Dokumentationsraum in der Gedenkstätte Plötzensee ab – einer Erinnerungsstätte bürgerlichen deutschen Widerstands, und weniger eine Erinnerungsstätte an deutsche Verbrechen –, dann war die 1965 in Dachau errichtete Dauerausstellung die erste bedeutende Ausstellung in der Bundesrepublik zu diesem Thema überhaupt.
Erst seit den 80er Jahren des vorherigen Jahrhunderts ist die Praxis der Gedenkstätten, ihre Errichtung und ihr Betrieb, ein anerkannter Sektor der Kulturpolitik. Bis dahin stand überall, auch in Dortmund, in dieser Frage die politische Durchsetzbarkeit, d.h. das „ob“, im Vordergrund. Seitdem diese Frage unstreitig ist, geht es in der Auseinandersetzung um ausstellungstheoretische Konzeptionen, Fragen, die uns heute hier nicht weiter beschäftigen sollen.
Die Gründungsphase der Gedenkstätten in den 80er Jahren war – um mit Alexander und Margarethe Mitscherlich zu sprechen – gegen die Verleugnung des Geschehenen gerichtet, d.h. es ging in der Auseinandersetzung um eine Diskrepanz zwischen dem, was übereinstimmend als Tatsache anerkannt wurde, und dem Ausbleiben einer als angemessen angesehenen emotionellen Konnotation dieser Tatsache. Man bewahrte in dieser Phase zum Glück etwas, was man – daran darf man erinnern – mehrheitlich nicht ansehen, das man im Grunde nicht wahrhaben wollte.
Gegen dieses „Nicht-wirklich-wahrhaben-wollen“ richteten sich die Gedenkstätten, auch unsere 1992 eröffnete Steinwache. Zugleich schloss sich in den Gedenkstätten, neben einer lokalen Historiographie der NS-Zeit, ein vielfältiges geschichtspädagogisches Bemühen an. Es wurde nicht nur an Emotionen appelliert, sondern erläutert, erzählt, kontextualisiert und ein Raum für politische Diskussion eröffnet. Dabei ist es heute besonders wichtig zu betonen, was Gedenkstätten können und sollen in ihrer pädagogischen Arbeit, und was nicht. Ich halte nämlich die Idee, man könnte erfolgversprechend vor Gegenwärtigem warnen, wenn man zeigt, wohin das alles einmal geführt hat, für nicht besonders gut. Leute zu diskriminieren und zu quälen, ist auch dort stets verwerflich gewesen, wo keine Gefahr bestand, dass es zu einem Massenmord ausarten könnte.
Besonders absurd ist der Versuch, Gedenkstätten zu Orten der Umkehr zu machen. Junge Menschen, die sich in Diskriminierung, Schikanieren und Quälen hervorgetan haben, sollen lernen, wo das alles hinführen kann. Aber glauben wir wirklich, dass einer sagt, wenn er geahnt hätte, dass man in nationalsozialistischen Lagern Asoziale umgebracht habe, dann hätte er seinerseits den „Penner“ am Bahnhof nicht zusammengeschlagen? Oder, um die Frage von Wolfgang Thierse zu beantworten: „Man muss es nicht lernen, dass man Menschen nicht anzündet.“ Man weiß das. Und wenn man es nicht weiß, lernt man es auch nicht mehr. Sondern man lässt es, wenn man nichts mehr zu gewinnen hat, auch keinen heimlichen Beifall, und nur seine Freiheit auf Spiel setzt.
So sind die Orte des Gedenkens an die Ermordeten, die man den Überlebenden als Orte der Trauer und des Gedenkens viel zu lange verweigert hat, heute mit einer Art Auftrag befrachtet, dem das, was in den Gedenkstätten geschieht, überhaupt nicht mehr gerecht werden kann. Vor allem auch deshalb, weil man den Gedenkstätten einen Wert zuspricht, ohne ihn jemals begründet zu haben. Man überfrachtet damit Geschichtsschreibung allgemein und weist ihr eine Aufgabe zu, die sie nach meinem Verständnis nicht leisten kann: Sinn zu stiften. Und gerade das historisch Einmalige des Nationalsozialismus ist es, das sich sehr der Anwendung sperrt. Genaugenommen hat die nationalsozialistische Vergangenheit gerade wegen des fast alle politischen Gruppierungen übergreifenden Konsenses ihrer verbrecherischen Natur besonders wenig Lernwert. Aber das historische Besondere drängt uns, es zu dokumentieren, zu analysieren und die Orte, die für diese Besonderheit stehen, zu bewahren und zu Orten der Dokumentation und Analyse zu machen. Diese Erinnerung bedarf der historischen Forschung, die sich in ihrem Ziel, zu dokumentieren und zu analysieren, von keinem Sinnbedürfnis abhängig machen darf.
Zugleich stehen die einzelnen Orte – wie auch die Steinwache – in ihrer symbolischen Besonderheit für die Zerstörung jener zivilisatorischen Selbstgewissheit, die sich im 18. und 19. Jahrhundert aufgebaut hatte und durch den 1. Weltkrieg bereits erschüttert worden ist – eine Erschütterung für die es eindrückliche Zeugnisse in der bildenden Kunst (George Grosz) und der Literatur (Alfred Döblin) der Zwischenkriegszeit gibt. Denn die Erschütterung war ja gerade deshalb da, weil man – und das keineswegs nur als Marxist – der Hoffnung war auf Fortgang der Geschichte zum unabweislich Besseren. Und das, was als sicher geglaubt wurde, brach nun von einem auf den anderen Tag zusammen.
Gerade das zeigt uns das 20. Jahrhundert: diese Fragilität einer Zivilisation. Wo immer wir leben – und das trifft in besonderer Weise gerade auch auf Dortmund zu – haben wir es räumlich nicht weit zu einem Lager, Nebenlager oder einer Folterkammer wie der Steinwache. Und dies vor nicht wenig mehr als 65 Jahren: eine zeitliche Nachbarschaft zu dieser Verwandlung eines Kernlandes der europäisch-atlantischen Zivilisation in einen Ort der Barbarei. Dort haben wir oder unsere direkten Vorfahren gelebt, auf diesem Boden sind wir geboren worden. Deshalb ist auch das Benennen und Verdeutlichen von Täterstrukturen so wichtig. Es geht also in unseren Gedenkstätten heute um das Bewusstsein einer Gefährdung unserer Zivilisation, von der man weiß, seit es klar ist, dass es eine Illusion war zu meinen, der Zivilisationsprozess seit der Französischen Revolution sei unumkehrbar; von einer Gefährdung, die immer aktuell bleiben wird. Denn nichts versteht sich von selbst in dieser Welt.
Und es geht um Scham, die jeden ergreift, der sich ergreifen lässt. Die Scham lässt sich nicht erzwingen. Es macht aber einen Unterschied ums Ganze, ob man theoretisch-historisch an einem neutralen Ort – etwa einem Museum – darüber redet, oder ob man am Ort des Geschehens ist. Aber erzwingen kann man es nicht. Man kann es nur wecken und üben, das Bewusstsein und die Scham. Und dazu sind Gedenkstätten da. Nicht nur sie, aber insbesondere sie.