Grußwort der Bürgermeisterin Birgit Jörder
Sehr geehrter Herr Söder,
liebe Schülerinnen und Schüler der Geschwister-Scholl-Gesamtschule,
verehrte Gäste aus dem In- und Ausland,
liebe Dortmunderinnen und Dortmunder,
in guter Tradition versammeln wir uns jedes Jahr am Karfreitag hier am Mahnmal in der Bittermark. Wir gedenken der Menschen, die noch in den allerletzten Kriegstagen durch nationalsozialistische Mordgesellen an diesem Ort umgebracht wurden. Fast 300 Frauen und Männer – Widerstandskämpfer, Kriegsgefangene, Verschleppte – Menschen aus Belgien, Frankreich, Jugoslawien, den Niederlanden, Polen, Russland und Deutschland – ihre genaue Zahl kennen wir nicht, von vielen nicht einmal den Namen.
Nur wenige Tage vor dem Einmarsch amerikanischer Truppen wurden sie aus dem Hörder Gestapo-Keller hierher verschleppt, ermordet und in Bombentrichtern verscharrt. Eilig machten sich ihre Mörder anschließend aus dem Staub. Die Brutalität und Sinnlosigkeit dieser Mordaktion in den letzten Stunden eines schon verlorenen Krieges erschüttert jedes Mal aufs neue. Soweit die Knechte des Terrors später vor Gericht gestellt wurden, beriefen sie sich auf Befehl und schuldigen Gehorsam. Man fragt sich noch heute, wie tief ein Mensch gesunken sein muss, um solchen Befehlen zu gehorchen.
Karfreitag ist der Tag der Trauer und Klage. Trauer und Klage schulden wir den Opfern, die hier ihr Leben ließen. Ich denke besonders an die vielen jungen Menschen, mit deren Tod an diesem Ort auch ihre Wünsche, Hoffnungen und Begabungen ins Grab sanken. Ich denke an ihre Angehörigen, die mit Ungewissheit, Schmerz und manch‘ bleibender seelischer Verletzung fertig werden mussten. Der Nationalsozialismus hatte nicht nur Europas Städte in Trümmer gelegt, er hatte auch in Kopf und Herz vieler Menschen schlimme Verheerungen angerichtet.
Wir Dortmunder stellen uns diesem finsteren Teil unserer Geschichte, mit Scham und mit Trauer, aber auch mit dem festen Willen, unseren Beitrag zu leisten, damit sich ein solches Grauen nicht wiederholen kann. Die Verbrechen vergangener Tage können wir nicht ungeschehen machen. Aber wir können und müssen die Verantwortung dafür übernehmen, dass sie nicht vergessen werden. Dass wir Lehren für den Schutz unseres Gemeinwesens daraus ziehen, besonders dann, wenn aufgeheizter Rassismus und Nationalismus ihre dumpfen Parolen grölen.
Nach dem zweiten Weltkrieg haben wir den Weg zu einem rechtsstaatlichen Gemeinwesen in einer Wertegemeinschaft freier Völker beschritten. Das war nur möglich, weil uns die Gegner von damals die Hand zur Versöhnung gereicht haben. Menschen, die jahrelang unter Terror und Gewaltherrschaft der deutschen Aggression gelitten hatten, waren bereit, die Zukunft Europas gemeinsam mit uns zu gestalten. Das allein erlegt uns schon die Verpflichtung zu einer Kultur verantwortungsvoller Erinnerung auf. Entschlossen treten auch wir Dortmunder jedem Versuch entgegen, das schlimmste Kapitel deutscher Geschichte vergessen, verharmlosen oder relativieren zu wollen.
Das Mahnmal in der Bittermark wirkte bald nach seiner Errichtung über die Grenzen unseres Landes hinaus. Wir haben es dankbar als eine Geste der Verständigung empfunden, dass schon früh ehemalige Kriegsgefangene und Deportierte zu den jährlichen Gedenkstunden nach hier kamen und immer noch kommen. Ihnen möchten wir Erinnerung in Würde ermöglichen und mit ihnen gemeinsam das Gedenken an die Toten teilen.
Eine wichtige Rolle spielen dabei unsere französischen Freunde. Leider konnte niemand von ihnen dieses Jahr nach Dortmund kommen. Das fortschreitende Alter fordert da leider seinen Tribut. Besonders vermissen wir in diesem Jahr den Ehrenpräsidenten der Französischen Vereinigung der Arbeitsdeportierten, Herrn Jean-Louis Forest. Im Alter von 89 Jahren starb er Weihnachten vergangenen Jahres.
Als ehemaliger Arbeitsdeportierter setzte er sich schon früh für eine deutsch-französische Verständigung und Versöhnung ein. Nach ersten Kontakten 1956 wurde er zur treibenden Kraft für eine Beteiligung und Mitwirkung seines Landes an diesem Mahnmal. Mit auf seine Initiative hin übernahmen der französische Staat und die Vereinigung der Arbeitsdeportierten die Kosten für die Ausgestaltung der Krypta durch einen französischen Künstler.
Am Karfreitag 1958 war es dann soweit. Unter großer deutsch-französischer Anteilnahme wurde ein unbekanntes französisches Opfer des finalen Nazi-Terrors in der noch unfertigen Krypta zur letzten Ruhe gebettet. Anschließend übernahm Jean Louis Forest den Schlüssel zur Krypta als symbolischer Hüter dieses Ortes, der für ihn ausdrücklich immer ein Ort der Trauer und des Erinnerns für die Opfer aller Nationalitäten sein sollte. Heute ist die Krypta mit ausdrücklicher deutscher Zustimmung eine französische Enklave, also ein exterritoriales Stück Frankreich auf Dortmunder Boden. Das ist ein ganz besonderes Symbol für unsere Versöhnung und Freundschaft, nimmt uns zugleich aber auch in besondere Verantwortung.
Jean-Louis Forest hat sich um die französisch-deutsche Verständigung und Freundschaft in dieser Region hohe Verdienste erworben. Sein Leben ist beispielhaft für das Wirken vieler Europäer, die als geschundene Opfer deutscher Aggression nach Kriegsende weitsichtig über Hass, Verletzung und Schmerz hinaus in die Zukunft dachten. Ohne Menschen wie ihn wäre das Haus Europa nie gebaut worden. Die Stadt Dortmund sieht in ihm einen besonderen Freund und ehrte ihn 1980 als ersten Ausländer mit dem Ehrenring der Stadt. Bis ins hohe Alter war er regelmäßiger Teilnehmer unserer jährlichen Gedenkveranstaltung. Jeder, der ihm bei dieser Gelegenheit begegnete, konnte spüren, wie wichtig ihm dieses gemeinsame Erinnern war. Ich erinnere an seine Worte zum 20. Jahrestag der Einweihung unseres Mahnmals:
„Dieser Jahrestag ist ein Zeichen des gemeinsamen Willens der Französischen Vereinigung der Arbeitsdeportierten und der Stadt Dortmund, in Ehrfurcht unseren toten Brüdern verbunden zu bleiben und stets wachsam zu sein, damit sich solche Gräuel nicht wieder ereignen.“
Sich erinnern und wachsam sein. Ein Plädoyer für Verantwortung und gegen Vergessen. Weitsichtige Verständigung und großmütige Versöhnung haben nach dem zweiten Weltkrieg den Weg zu einer Epoche der Vernunft geebnet. Vernunft, die Lehren aus der Vergangenheit zieht; Vernunft, die auf die Herrschaft des Rechts baut; Vernunft, die den Menschen als Mitmenschen achtet, dem man mit Respekt und Toleranz zu begegnen hat.
Geprägt war dieser Weg durch die persönliche schmerzliche Erfahrung der Zeitzeugen des nationalsozialistischen Terrors. Aber diese Zeitzeugen werden immer weniger. Umso wichtiger ist es, dass jüngere Generationen die Fackel der Erinnerung übernehmen und in die Zukunft weitertragen. Ich freue mich deshalb sehr, dass auch dieses Jahr wie schon in der Vergangenheit junge Dortmunderinnen und Dortmunder sich an dieser Feier beteiligen. Schülerinnen der Geschwister-Scholl-Gesamtschule und der Jugendchor „Teenclouds“ des MGV Brackel tragen zum würdigen Rahmen dieser Feierstunde bei, wofür ich ihnen sehr herzlich danken möchte. Junge Mitbürgerinnen und Mitbürger setzen damit für ihre Generation ein Zeichen.
Der dunkelste Teil unserer Geschichte darf nicht im Dunkel des Vergessens verschwinden. Das sind wir nicht nur den Opfern schuldig. Das sind wir uns selbst und unseren Nachfahren schuldig. Nur eine wache, verantwortungsvolle Auseinandersetzung mit unserer Geschichte schärft unsere Sinne für die allgegenwärtige Gefahr von Unrecht und sittlicher Barbarei. Der amerikanische Schriftsteller William Faulkner sagte einmal sehr treffend: „Geschichte ist nicht gewesen, Geschichte ist.“ In der Tat kann es für diese wie künftige Generationen keine Entwurzelung aus der Geschichte geben! Geschichte bleibt Voraussetzung und damit Teil der Gegenwart.
Die Lehren der Vergangenheit beherzigen und sie aktiv in die Gestaltung von Gegenwart und Zukunft einzubringen, das bleibt ständige Aufgabe. Intoleranz und Rassenwahn, die Arroganz des Besserwissens und Besserseins, die Verachtung des Andersdenkenden und Andersbetenden – all das war einst der Nährboden für die Verbrechen, deren Opfer wir hier betrauern.
Und leider muss man sagen: Die Gesinnung rassistischer und kultureller Überheblichkeit begegnet uns auch heute noch viel zu oft. Umso wichtiger ist es, dass dem schon die junge Generation das deutliche Zeichen entgegensetzt: Nicht mit uns! Waches Bewusstsein und bürgerschaftliches Engagement, ethisch begründetes Denken und Handeln, Respekt füreinander und Solidarität miteinander – das schützt und festigt unsere demokratische und rechtsstaatliche Ordnung und lässt dem Ungeist der Vergangenheit keine Chance. Das schulden wir denen, die wir hier betrauern.
Meine Damen und Herren, mit dem Mahnmal Bittermark haben wir in internationaler Zusammenarbeit eine würdige und bewegende Erinnerungsstätte geschaffen. Die Mahnung, die von hier ausgeht, hat nichts von ihrer Dringlichkeit verloren: Haltet die Erinnerung an die hier ermordeten Menschen wach, damit sich solche Verbrechen niemals wiederholen.