Nach einem Text von Dietrich Schulze
Berlin im Mai 1945. In der Zitadelle Spandau haben sich Wehrmacht- und SS-Einheiten mit deutscher Zivilbevölkerung verschanzt. Wladimir Gall, ein junger Oberstleutnant der Roten Armee, wird als Parlamentär beauftragt, die Besatzung der Spandauer Zitadelle zur Aufgabe zu bewegen. Die Festung ist eingeschlossen und muss aus militärstrategischen Gründen eingenommen werden.
Der Festungskommandant, ein älterer Wehrmachtoffizier, bescheidet die Parlamentäre, dass seine Offiziere die Kapitulation ablehnen. Der Auftrag wäre damit erledigt. Doch Wladimir, der die deutsche Sprache beherrscht, durchdrungen von der Sinnlosigkeit dieser verbrecherischen Entscheidung, die den sicheren Tod vieler deutscher Zivilisten zur Folge haben würde, trifft eine spontane Entscheidung: Er fragt, ob er direkt mit den Offizieren sprechen könne. Der Kommandant hebt vielsagend die Schultern und antwortet ihm: „Wenn Sie meinen.“ Will sagen: „Wenn Sie sich in die SS-Höhle begeben und darin umkommen wollen, ist das Ihre Entscheidung.“
Sie klettern auf der Strickleiter die Brüstung hoch. Wladimir spricht zu den jungen, kaltblütigen SS-Offizieren, die von einer Entsatzarmee faseln. Er klärt sie über die Propaganda und über die tatsächliche militärische Lage auf. Nicht als gefühlter Sieger, sondern von Militär zu Militär, sachlich und beherrscht über die Aussichtslosigkeit der Lage informierend und darüber, dass die Zivilisten geschont werden sollten. Mit starker innerer Anspannung, einer unbewussten Mischung aus humanistischem Pflichtgefühl und der Wahrnehmung der Gefahr.
Dann wird ihm eine Augenbinde angelegt und er wird abgeführt. Erst in diesem Augenblick, sagt mir Wladimir (Wolodja) in einem Gespräch nach einer Filmvorführung, sei ihm bewusst geworden, in welcher Lebensgefahr er schwebte. Über Geheimgänge wird er aus der Zitadelle heraus geführt. Doch sein beherzter Auftritt hat seine Wirkung nicht verfehlt: Am nächsten Tag kapitulierten die faschistischen Militärs, die deutsche Zivilisten als Geiseln verheizt hätten, so wie das anderenorts geschah, zum Beispiel bei Halbe.
Der Sowjetbürger Wladimir Gall rettete ihnen das Leben. Wie seine Mitstreiter in der Roten Armee hat er gegen die deutschen Faschisten, nicht gegen die Deutschen gekämpft. Deutsche Antifaschisten kämpften Schulter an Schulter mit den Soldaten der Alliierten, im „Nationalkomitee Freies Deutschland“ (NKFD) auf der Seite der Sowjetunion und im „Nationalkomitee Freies Deutschland für den Westen“.