Die Rede von Gisa Marschefski, Karfreitag 2005

Ansprache von Gisa Marschefski, Generalsekretärin des IRPK, vorgetragen von Celine van der Hoek de Vries, Amsterdam, Überlebende des Vernichtungslagers Auschwitz und Vizepräsidentin des IRPK


Verehrte Angehörige der Mordopfer,
liebe Freundinnen und Freunde aus dem In- und Ausland,
werte Teilnehmerinnen und Teilnehmer dieser Gedenkkundgebung!

Vor 60 Jahren hallten durch diesen stillen Wald Pistolenschüsse. Sie zielten auf Frauen und Männer aus sieben europäischen Ländern, die Gegner des faschistischen Krieges waren. Um die 300 Nazi-Gegner wurden durch Genickschüsse wenige Tage vor der Zerschlagung des Hitler-Reiches ermordet.

Viele von ihnen hatten schon seit dem Machtantritt Hitlers Widerstand gegen das Terrorsystem und seine Kriegsvorbereitung geleistet. „Wer Hitler wählt, wählt den Krieg“ war eine ihrer Parolen gewesen.

Zu jenen, die schon vor 1933 warnten, gehörten mein Vater Erich Mörchel und dessen Bruder Karl. Sie waren Kommunisten, so wie die meisten der deutschen Ermordeten. Wie ihre sozialdemokratischen Genossen, wie ihre Kollegen aus dem gewerkschaftlichen und kirchlichen Bereich, wollten sie eine baldige Befreiung von der Nazidiktatur und die Beendigung des wahnsinnigen Krieges der Naziführung.

Mit Hilfe der Wehrmacht, der SS, der Gestapo und anderer verbrecherischen Nazi-Organisationen haben die Machthaber des sogenannten „Dritten Reiches“ die Völker Europas unter ihren Stiefel gezwungen. Unter dem Vorwand, das „Abendland“ von dem „jüdischen Bolschewismus“ zu befreien, sind die faschistischen Eroberer plündernd und mordend durch Europa gezogen. Ihre Blutspur führte auch hier in die Bittermark und den Rombergpark.

Unter den etwa 300 Opfern der Gestapomorde befinden sich zahlreiche Zwangsarbeiter aus der Sowjetunion, Frankreich, Belgien, Holland, Polen und Jugoslawien. In den Zechen und Stahlwerken und anderen sogenannten kriegswichtigen Betrieben mussten sie für Hitlers Kriegsmaschinerie und den Profit der Konzerne Sklavenarbeit leisten. Weil sie sich dem widersetzten oder auch nur in dem Verdacht standen, sich widersetzt zu haben, wurden sie von den, wie sie sich selbst nannten, „deutschen Herrenmenschen“ verfolgt, gequält und ermordet.

Dem Antisemitismus, dem Rassenwahn und der Ausländerfeindlichkeit der Hitler-Clique sind Millionen und Abermillionen Menschen zum Opfer gefallen. Mindestens zwei der jüdischen Opfer, nämlich Frau Adolfs und Frau Risse, wurden hier ermordet. Sie waren bis dahin dem Holocaust entgangen. Doch die „Rassengesetze“ Hitlers, die von dem späteren Staatssekretär des Bundeskanzlers Adenauer kommentiert, das heißt praktikabel gemacht wurden, trafen diese beiden Frauen noch wenige Tage vor dem Einmarsch der US-amerikanischen Truppen in Dortmund. Sie wurden Opfer der erbarmungslosen und brutalen Mordmaschinerie der Gestapo.

Vor kurzem ist es gelungen, Kontakt zur Tochter von Frau Risse herzustellen. Vorige Woche bekam ich einen Brief, in dem sie unter anderem schreibt: „Wir kennen einander nicht. Doch wir haben den Verlust gemeinsam: Sie, Ihren Vater und Onkel zu verlieren, und ich meine Mutter. Am 26. März 1945 sah ich meine Mutter zum letzten Mal. Ich hatte zwei Koffer bei mir, in der Absicht, meine Mutter zu begleiten in ihr unbekanntes Schicksal. ,Nein, mein Stümmelchen, Du musst jetzt nach dem Vater und Bruder sehen. Vielleicht kehre ich zurück zu Euch allen…’ Manchmal fühle ich mich, als wäre das alles gestern gewesen.“ So weit aus dem Brief von Julia Hudson, die jetzt in Schottland lebt.

Was mag die Opfer bewegt haben, als sie vor nunmehr 60 Jahren von ihren Mördern an die Bombentrichter geschleppt wurden? Der Weg von der Gestapohölle in der Benninghofer Straße in den Rombergpark und in die Bittermark war qualvoll und doch – oder gerade darum – haben die Todeskandidaten sicher an ihre Lieben, an ihre Frauen, Männer und Kinder gedacht. Es gibt dafür zwar keine Zeugnisse, aber dennoch gehe ich davon aus, dass Vater an uns, seine drei Kinder und seine Frau, unsere Mutti, gedacht hat. Vielleicht hatte er ja ähnliche Gedanken wie der tschechische Widerstandskämpfer Julius Fucik. Dieser hatte kurz vor seiner Hinrichtung im September 1943 in Plötzensee in seiner „Reportage unter dem Strang geschrieben“ so gesagt: „Menschen, ich hatte euch lieb – seid wachsam!“

Ja, seid wachsam! Es gibt keine Veranlassung, die Aufmerksamkeit von den Verbrechen des Nazi-Systems weg auf angeblich „gleiche“ oder „ähnliche“ Ereignisse in der Geschichte der Menschheit zu lenken. Es sind nicht allein die Wahlergebnisse für die NPD und andere neonazistische Parteien und Verbände, die von allen demokratischen Kräften hohe Wachsamkeit und Abwehrbereitschaft erfordern. Der wachsende Antisemitismus, die Ausländerfeindlichkeit in vielerlei Prägung, zunehmende Gewaltbereitschaft und Intoleranz in unserer Gesellschaft sollten uns Sorgen machen und zum Handeln veranlassen.

Es wird in dieser Stadt einiges getan, um die Verbrechen des Hitler-Regimes als bittere Lehre für unser Volk und die Menschheit aufzudecken und in Erinnerung zu halten. Erwähnen möchte ich hier insbesondere die Ausstellung „Widerstand und Verfolgung in Dortmund 1933 bis 1945“. Ich rufe Sie auf, diese Ausstellung in dem ehemaligen Polizeigefängnis „Steinwache“ zu besuchen, sich mit dem Inhalt vertraut zu machen und ihn zu verbreiten.

Zahlreiche Demonstrationen und andere Aktionen gegen die Neonazis in unserer Stadt sind Beweis dafür, dass Teile der Bevölkerung den Ruf „seid wachsam“ sehr wohl aufgenommen haben. Das beweist auch die Aktion des Kölner Künstlers Demnig, sogenannte „Stolpersteine“ für die Erinnerung an ermordete Juden und andere Opfer des Faschismus anzubringen. Diese bereits in 50 Städten unseres Landes praktizierte Form des Erinnerns und Gedenkens an die Nazizeit und ihre Opfer wurde von Pädagogen unserer Stadt aufgegriffen, wird vom Stadtarchiv unterstützt und sollte breite Unterstützung finden.

Zum Gedenken an die wegen ihres Widerstands gegen die Nazis ermordeten Mitglieder des BVB 09, Heinrich Czerkus und Franz Hippler, hat es heute einen Gedächtnislauf vom Westfalenstadion hierher gegeben. Solche Aktivitäten sind gute Maßnahmen gegen das Vergessen und gegen die Verniedlichung der Naziverbrechen in der Bittermark, dem Rombergpark und an jenen Orten, deren Namen die Künstler Schwarz und Niestrath an eine Stelle dieses Denkmals für immer eingemeißelt haben.

Verehrte Anwesende, auch im Namen zahlreicher Antifaschisten und Widerstandskämpfer aus dem In- und Ausland sowie Angehöriger der hier Ermordeten bedanke ich mich für das Gedenken an meinen Vater und seine Kameradinnen und Kameraden.

In diesem Sinne rufe ich Ihnen zu: Nie wieder! Seid wachsam!

 

 

Karfreitag 2005: Erklärung von Dortmund

Vom Treffen der Hinterbliebenen von Kriegsendmorden der Nazis

I.

Kurz vor der Befreiung von Krieg und Faschismus wurden im Frühjahr 1945 Tausende Antifaschistinnen und Antifaschisten von den Nazis „ausgeschaltet“ und ermordet. Während seit Herbst 1944 zahlreiche geheime Bemühungen von Nazioberen um eine Wende des Krieges – eine Wende zu einer Einigung mit dem Westen zur Fortsetzung des Krieges gegen den Osten, die Sowjetunion – unternommen wurden, ist gleichzeitig ein Mordfeldzug gegen deutsche und ausländische Antifaschisten und gegen deutsche Soldaten, die dem Wahnsinn ein Ende bereiten wollten, in Gang gesetzt worden. Die Nazis befürchteten, diese Kräfte, vor allem Arbeiterinnen und Arbeiter, könnten sich die Früchte des Sieges über den Faschismus durch gemeinsames Handeln für eine Zukunft in Frieden und Demokratie sichern wollen. So sollte ihr Mitgestalten an einer grundlegenden Wende und an einer Nachkriegszeit ohne Nazis und Militaristen verhindert werden.

Diese Massenmorde wie auch die Massaker in den Konzentrationslagern und auf den Todesmärschen von den KZ nach Westen entsprachen dem Nachkriegs- und Überlebenskonzept des deutschen Faschismus. Gestapochef Müller hatte versichert: „Wir werden nicht den gleichen Fehler machen, der 1918 begangen wurde; wir werden unsere innerdeutschen Feinde nicht am Leben lassen.“

Welche Zukunftsvorstellungen verbanden die Opfer dieser Massenmorde kurz vor Kriegsende? Dieser Frage widmeten sich kurz vor Ostern 2005 in Dortmund deutsche und ausländische Antifaschisten auf einem internationalen Treffen, zu dem das Internationale Rombergparkkomitee eingeladen hatte. Teilgenommen haben auch die Internationale Föderation der Widerstandskämpfer FIR und die Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz, die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes/Bund der Antifaschisten und örtliche antifaschistische Initiativen und Historikerinnen und Historiker.

II.

Bei dem Treffen im Dortmunder Rathaus wurden über 60 Tatorte von Kriegsendmorden in Deutschland benannt. Hinterbliebene der Opfer der Verbrechen und diejenigen, die heute in ihrem Sinne handeln, haben diese grauenvolle Bilanz zusammengetragen.

Sie möchten nun von Dortmund aus mit den regionalen Hinterbliebenengruppen oder antifaschistischen Geschichtsarbeitern in Kontakt treten. Das Internationale Rombergparkkomitee, unterstützt von der VVN-BdA in NRW, setzt die Kontaktaufnahme zu Gruppen aus möglichst vielen Orten fort, an denen kurz vor der Befreiung noch Massenerschießungen stattfanden und Hitlergegner ermordet wurden. Diese Kontakte und Vernetzung soll gegen das Vergessen gerichtet sein und dem Erfahrungsaustausch dienen, wie Erinnerungsarbeit vor allem mit der Jugend erfolgen kann.

III.

Notwendig ist auch, die Zusammenarbeit auch international fortzusetzen, denn die Kriegsendverbrechen wurden vor allem an ausländischen Arbeiterinnen und Arbeitern verübt. Es geht um die Verwirklichung des Vermächtnisses des antifaschistischen Widerstands in Europa, um die Wiederherstellung und Anwendung des antifaschistischen Konsenses „Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus“.

Die internationale Zusammenarbeit muss auch deshalb verstärkt werden, weil leider auch ein Europa des Friedens, ein Europa, das die Lehren von 1945 zieht, noch in weiter Ferne liegt. Die Pläne, eine EU-Verfassung zu schaffen, welche die antifaschistischen Grundpositionen aus deutschen Verfassungstexten ablösen und abschaffen soll – Verbot des Angriffskrieges und seiner Vorbereitung, Armeen nur zur Verteidigung, Sozialpflichtigkeit des Eigentums, Recht auf Arbeit, Verbot des Nazismus und Neonazismus, Bekräftigung der 1945er Befreiungsbestimmungen von Militarismus und NS-Regime  – müssen auf den Widerstand der Antifaschisten stoßen. Das Anwachsen von Antisemitismus, Neofaschismus und Rassismus in ganz Europa, vor allem aber in Deutschland, ist alarmierend. Das Vermächtnis von 1945 gebietet, dem entschlossen entgegen zu wirken.

Nicht zugelassen werden darf auch die offene und schleichende Umwidmung der Erinnerungsarbeit und der Gedenkstätten hin zu einem „Gedenken“, das auch die Täter als Opfer einschließt. Das EU-Parlament hat Anfang der 90er Jahre, als besonders in den neuen Bundesländern rechte politische Kräfte und auch solche der „Mitte“ die Abwicklung und politische Umwidmung der KZ-Gedenkstätten betrieben, in einem einstimmig gefassten Beschluss den Schutz der Gedenkorte, die Bewahrung der Würde der Opfer und die Erinnerung an die Frauen und Männer, die durch den Naziterror ums Leben kamen, gefordert. Diese Forderung ist zu bekräftigen. Zu bekräftigen ist die Forderung: Für die Entschädigung der Opfer, für die Bestrafung der Täter.

Die Teilnehmer des Treffens von Dortmund bekräftigen 60 Jahre danach den Schwur der Häftlinge von Buchenwald, der auch das Vermächtnis der Opfer der Morde vor Kriegsende ist: „Wir stellen den Kampf erst ein, wenn auch der letzte Schuldige von den Richtern der Völker steht! Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel. Das sind wir unseren gemordeten Kameraden, ihren Angehörigen schuldig.“

Antifaschistische Gruppen und Initiativen sind aufgerufen, mit  dem Internationalen Rombergparkkomitee in Dortmund zusammenarbeiten.