Die Rede von Gisa Marschefski, Karfreitag 2009

Es ist insbesondere für uns Angehörige immer noch unfassbar, was vor nunmehr 64 Jahren, um den Karfreitag 1945, hier in der Bittermark, im Rombergpark und an anderen Orten in unserer Stadt geschah. An die 300 Frauen und Männer aus sieben Ländern Europas wurden durch Genickschuss von den Mordbanden der nazistischen Gestapo ermordet. Und das zu einem Zeitpunkt, als US-amerikanische Truppen bereits die Dortmunder Stadtgrenze erreicht hatten und klar war, dass der vernichtende Krieg kurz vor seinem Ende stand.

War es reine Mordlust der Bestien aus der Hörder Gestapohölle, oder waren diese Morde Teil eines umfassenden Planes der Naziführung? Das letztere scheint der Fall zu sein. Denn entsprechende Forschungen in der letzten Zeit haben ergeben, dass kurz vor der Befreiung von Krieg und Naziregime 1945 nicht allein hier in Dortmund, sondern an zahlreichen Orten unseres Landes viele Tausend Antifaschistinnen und Antifaschisten sowie Gegner des Raubkrieges Hitlers ermordet wurden. Sie stammten wie unsere Ermordeten, derer wir heute gedenken, aus den von der Hitler-Wehrmacht überfallenen und besetzten Ländern Europas.

Das IRPK weist in einem Buch, das wir im vorigen Jahr vorlegten, nach, dass es mindestens 150 weitere Tatorte gibt, an denen sich Gleiches ereignete wie hier in der Bittermark. Die Nazis befürchteten wohl, diese Nazigegner könnten nach Beendigung des Krieges Einfluss nehmen auf die Gestaltung eines demokratischen, antifaschistischen Deutschland und Europa. Der oberste Gestapochef Heinrich Müller wollte das mit dem Mittel des Mordes verhindern. Er sagte: „Wir werden nicht den gleichen Fehler machen, der 1918 begangen wurde; wir werden unsere innerdeutschen Feinde nicht am Leben lassen.“ Und der „Reichsführer SS“ Heinrich Himmler drohte im März 1945: „Sie werden mit uns verrecken.“

Diese menschenverachtenden Drohungen wurden von den willigen Henkern der Gestapo verwirklicht. Die Naziführung befürchtete, die Ermordeten könnten sich nach dem Krieg einsetzen für eine Welt ohne Krieg, für die Gestaltung eines demokratischen und friedlichen Deutschland.

Und ganz sicher hatten die Nazimörder Angst vor einer echten Entnazifizierung und der Beseitigung der Wurzeln des Nationalsozialismus. In der Tat, für solche Ziele hat sich mein Vater, haben sich die Ermordeten, derer wir hier gedenken, eingesetzt.

Diese Ziele waren und sind auch heute die Wünsche der großen Mehrheit unseres Volkes. Aber wie sieht demgegenüber die Welt 64 Jahre nach Rombergpark und Bittermark aus? Monat für Monat werden neue Kontingente von deutschen Soldaten in alle Welt geschickt, wirken auf vielen Kriegsschauplätzen und in so genannten Krisengebieten mit. So als ob wieder einmal die Welt am deutschen Wesen genesen solle. Eine solche Politik entspricht ganz sicher nicht dem, was die Ermordeten wollten und wofür sie ihr Leben gaben.

Und statt der Vernichtung des Nazismus mit all seinen Wurzeln, können sich Nazis und rechtsextremistische Kräfte immer weiter ausbreiten. Die zunehmende Verbreitung und Gewalttätigkeit wird durch die gegenwärtige Wirtschaftskrise noch befördert. Fünf Prozent der Jugendlichen sehen sich als Mitglieder neonazistischer Kameradschaften, wie jetzt durch eine Studie bekannt wurde. Obwohl bereits 150 Menschen in unserem Land tödliche Opfer rechtsextremer und neonazistischer Gewalt geworden sind, können die Feinde der Demokratie fast ungehindert ihre verbrecherische Politik betreiben.

Wie Beispiele aus der jüngsten Vergangenheit zeigen, scheinen die Regierenden in unserem Land sich mehr Sorgen um die Demonstrationsfreiheit für die Neonazis zu machen als um den Schutz der Bevölkerung und der Demokratie vor ihren Feinden. Mehr noch, Demokraten und Antifaschisten in unserer Stadt und in unserem Land werden allzu oft massiv darin gehindert, den Nazis wirkungsvoll entgegenzutreten.

Es ist gut zu wissen, dass es in Dortmund zahlreiche Kräfte gibt, die den Feinden der Demokratie Einhalt gebieten und sich den Neonazis entgegenstellen. Ich erlaube mir, etwas zu zitieren: „Wir haben es erlebt. Nie wieder! Bombennächte. Ständige Angst. Hausdurchsuchungen. Die Eltern im KZ. Verwandte sterben im Krieg. Nachbarn mit dem gelben Stern werden abgeholt. Nachts träumen wir davon. Die Nachfolger der Nazibande, die das verschuldete, erheben wieder ihr Haupt. Jahr für Jahr kommen sie nach Dortmund. Sie rufen ,Nie wieder Krieg’ und fügen hinzu: ,… nach unserem Sieg, dem Sieg des ‚nationalen Sozialismus’. Sie reden von Frieden, Antikapitalismus, ja Sozialismus. Das taten Hitler und Goebbels auch. Es kam zum furchtbarsten aller Kriege. Zur schlimmsten Form des Kapitalismus: Nicht nur Ausbeutung durch Arbeit, sondern Vernichtung durch Arbeit. Es kam zur Versklavung und zum Holocaust. …“

Dies sind die Worte, mit denen sich rund 100 Menschen aus meiner Generation vor einigen Monaten an die Öffentlichkeit wandten. Wir fügten hinzu: „Das Maß ist voll. Wir sehen nicht mehr zu. Wir Älteren, die Aktion 65 plus, werden den Nazis entgegentreten.“

Ämter, Regierende, Justiz und Polizei rufe ich dazu auf, antifaschistische Aktionen der Demokraten zu unterstützen. Der Ministerpräsident unseres Landes, Herr Rüttgers, lässt sich gerne als Landesvater bezeichnen. Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, ich bitte Sie, seien Sie väterlich zu Ihren Bürgern, schalten Sie Ihre Spitzel in der NPD ab, machen Sie so den Weg frei für ein Verbot der NPD! Und noch etwas Herr Ministerpräsident: Weisen Sie Ihren Innenminister, Herrn Wolf von der FDP an, die Polizei und deren Führungskräfte bei der Verwirklichung des Demonstrationsrechtes der Nazigegner aktiv zu unterstützen und nicht, wie geschehen, sie massiv zu behindern!

Das aktive Zusammenwirken aller demokratischen Kräfte unserer Stadt, der Polizei und der Behörden ist der Schlüssel eines erfolgreichen Wirkens gegen Rechtsextremismus und Neonazismus.

Ich rufe Ihnen zu: Ehren wir die Toten, indem wir uns gemeinsam gegen die braune Brut zur Wehr setzen! Das Gebot von 1945 ist nach wie vor gültig: Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg!

Grußwort von Dr. Stefan Mühlhofer

Dr. Stefan Mühlhofer
Wissenschaftlicher Leiter der Mahn- und Gedenkstätte Steinwache
Grußwort Gründonnerstag 2009

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde des Internationalen Rombergparkkomitees,

ich begrüße Sie heute hier als wissenschaftlicher Leiter der Mahn- und Gedenkstätte Steinwache und freue mich, dass sie auch in diesem Jahr ihre traditionelle Zusammenkunft am Gründonnerstag in der Steinwache veranstalten. Ich bin gebeten worden, ein Grußwort an Sie zu richten. Dem komme ich gerne nach und möchte kurz ein paar Gedanken zum Thema „Gedenkstättenarbeit heute“ vortragen.

Die Bundesrepublik Deutschland hat sich – wie wir alle wissen – schwer getan mit der Aufarbeitung der NS-Zeit. Dies lässt sich unter anderem auch in der Geschichte der Gedenkstätten in unserem Land ablesen. Sieht man vom 1952 eingerichteten Dokumentationsraum in der Gedenkstätte Plötzensee ab – einer Erinnerungsstätte bürgerlichen deutschen Widerstands, und weniger eine Erinnerungsstätte an deutsche Verbrechen –, dann war die 1965 in Dachau errichtete Dauerausstellung die erste bedeutende Ausstellung in der Bundesrepublik zu diesem Thema überhaupt.

Erst seit den 80er Jahren des vorherigen Jahrhunderts ist die Praxis der Gedenkstätten, ihre Errichtung und ihr Betrieb, ein anerkannter Sektor der Kulturpolitik. Bis dahin stand überall, auch in Dortmund, in dieser Frage die politische Durchsetzbarkeit, d.h. das „ob“, im Vordergrund. Seitdem diese Frage unstreitig ist, geht es in der Auseinandersetzung um ausstellungstheoretische Konzeptionen, Fragen, die uns heute hier nicht weiter beschäftigen sollen.

Die Gründungsphase der Gedenkstätten in den 80er Jahren war – um mit Alexander und Margarethe Mitscherlich zu sprechen – gegen die Verleugnung des Geschehenen gerichtet, d.h. es ging in der Auseinandersetzung um eine Diskrepanz zwischen dem, was übereinstimmend als Tatsache anerkannt wurde, und dem Ausbleiben einer als angemessen angesehenen emotionellen Konnotation dieser Tatsache. Man bewahrte in dieser Phase zum Glück etwas, was man – daran darf man erinnern – mehrheitlich nicht ansehen, das man im Grunde nicht wahrhaben wollte.

Gegen dieses „Nicht-wirklich-wahrhaben-wollen“ richteten sich die Gedenkstätten, auch unsere 1992 eröffnete Steinwache. Zugleich schloss sich in den Gedenkstätten, neben einer lokalen Historiographie der NS-Zeit, ein vielfältiges geschichtspädagogisches Bemühen an. Es wurde nicht nur an Emotionen appelliert, sondern erläutert, erzählt, kontextualisiert und ein Raum für politische Diskussion eröffnet. Dabei ist es heute besonders wichtig zu betonen, was Gedenkstätten können und sollen in ihrer pädagogischen Arbeit, und was nicht. Ich halte nämlich die Idee, man könnte erfolgversprechend vor Gegenwärtigem warnen, wenn man zeigt, wohin das alles einmal geführt hat, für nicht besonders gut. Leute zu diskriminieren und zu quälen, ist auch dort stets verwerflich gewesen, wo keine Gefahr bestand, dass es zu einem Massenmord ausarten könnte.

Besonders absurd ist der Versuch, Gedenkstätten zu Orten der Umkehr zu machen. Junge Menschen, die sich in Diskriminierung, Schikanieren und Quälen hervorgetan haben, sollen lernen, wo das alles hinführen kann. Aber glauben wir wirklich, dass einer sagt, wenn er geahnt hätte, dass man in nationalsozialistischen Lagern Asoziale umgebracht habe, dann hätte er seinerseits den „Penner“ am Bahnhof nicht zusammengeschlagen? Oder, um die Frage von Wolfgang Thierse zu beantworten: „Man muss es nicht lernen, dass man Menschen nicht anzündet.“ Man weiß das. Und wenn man es nicht weiß, lernt man es auch nicht mehr. Sondern man lässt es, wenn man nichts mehr zu gewinnen hat, auch keinen heimlichen Beifall, und nur seine Freiheit auf Spiel setzt.

So sind die Orte des Gedenkens an die Ermordeten, die man den Überlebenden als Orte der Trauer und des Gedenkens viel zu lange verweigert hat, heute mit einer Art Auftrag befrachtet, dem das, was in den Gedenkstätten geschieht, überhaupt nicht mehr gerecht werden kann. Vor allem auch deshalb, weil man den Gedenkstätten einen Wert zuspricht, ohne ihn jemals begründet zu haben. Man überfrachtet damit Geschichtsschreibung allgemein und weist ihr eine Aufgabe zu, die sie nach meinem Verständnis nicht leisten kann: Sinn zu stiften. Und gerade das historisch Einmalige des Nationalsozialismus ist es, das sich sehr der Anwendung sperrt. Genaugenommen hat die nationalsozialistische Vergangenheit gerade wegen des fast alle politischen Gruppierungen übergreifenden Konsenses ihrer verbrecherischen Natur besonders wenig Lernwert. Aber das historische Besondere drängt uns, es zu dokumentieren, zu analysieren und die Orte, die für diese Besonderheit stehen, zu bewahren und zu Orten der Dokumentation und Analyse zu machen. Diese Erinnerung bedarf der historischen Forschung, die sich in ihrem Ziel, zu dokumentieren und zu analysieren, von keinem Sinnbedürfnis abhängig machen darf.

Zugleich stehen die einzelnen Orte – wie auch die Steinwache – in ihrer symbolischen Besonderheit für die Zerstörung jener zivilisatorischen Selbstgewissheit, die sich im 18. und 19. Jahrhundert aufgebaut hatte und durch den 1. Weltkrieg bereits erschüttert worden ist – eine Erschütterung für die es eindrückliche Zeugnisse in der bildenden Kunst (George Grosz) und der Literatur (Alfred Döblin) der Zwischenkriegszeit gibt. Denn die Erschütterung war ja gerade deshalb da, weil man – und das keineswegs nur als Marxist – der Hoffnung war auf Fortgang der Geschichte zum unabweislich Besseren. Und das, was als sicher geglaubt wurde, brach nun von einem auf den anderen Tag zusammen.

Gerade das zeigt uns das 20. Jahrhundert: diese Fragilität einer Zivilisation. Wo immer wir leben – und das trifft in besonderer Weise gerade auch auf Dortmund zu – haben wir es räumlich nicht weit zu einem Lager, Nebenlager oder einer Folterkammer wie der Steinwache. Und dies vor nicht wenig mehr als 65 Jahren: eine zeitliche Nachbarschaft zu dieser Verwandlung eines Kernlandes der europäisch-atlantischen Zivilisation in einen Ort der Barbarei. Dort haben wir oder unsere direkten Vorfahren gelebt, auf diesem Boden sind wir geboren worden. Deshalb ist auch das Benennen und Verdeutlichen von Täterstrukturen so wichtig. Es geht also in unseren Gedenkstätten heute um das Bewusstsein einer Gefährdung unserer Zivilisation, von der man weiß, seit es klar ist, dass es eine Illusion war zu meinen, der Zivilisationsprozess seit der Französischen Revolution sei unumkehrbar; von einer Gefährdung, die immer aktuell bleiben wird. Denn nichts versteht sich von selbst in dieser Welt.

Und es geht um Scham, die jeden ergreift, der sich ergreifen lässt. Die Scham lässt sich nicht erzwingen. Es macht aber einen Unterschied ums Ganze, ob man theoretisch-historisch an einem neutralen Ort – etwa einem Museum – darüber redet, oder ob man am Ort des Geschehens ist. Aber erzwingen kann man es nicht. Man kann es nur wecken und üben, das Bewusstsein und die Scham. Und dazu sind Gedenkstätten da. Nicht nur sie, aber insbesondere sie.