„Ihr seid uns nicht vergessen!“

Die Rede von Ernst Söder, Vorsitzender des Fördervereins Steinwache / Internationales Rombergpark-Komitee

Sehr geehrte Frau Bürgermeisterin Jörder,
liebe Schülerinnen und Schüler der Geschwister-Scholl-Gesamtschule,
verehrte Anwesende und Freunde aus dem In- und Ausland!

Das Ende des Krieges war absehbar, die alliierten Truppen standen vor der Stadt. Doch die Henker der Nazidiktatur mordeten weiter. Fast 300 Widerstandskämpfer und Zwangsarbeiter aus sieben Nationen fielen einem letzten Blutrausch auf Dortmunder Boden zum Opfer. Dieses Verbrechen geschah vor 66 Jahren, im April 1945, in der Dortmunder Bittermark, im Rombergpark und am evangelischen Friedhof in Hörde.

Dort hatte man Leichen in Bombentrichtern gefunden. Die Nachricht darüber verbreitet sich schnell. Ein Landwirt hatte um Ostern herum an einigen Tagen frühmorgens Schüsse gehört. Als er nachsehen wollte, was das zu bedeuten habe, trat ihm ein SS-Mann entgegen, der ihm andeutete, dass neue Waffen ausprobiert würden und er sich wieder in sein Haus begeben solle.

Viele Menschen suchen in diesen Tagen einander. Der Sohn des Bergmanns Schwartz aus der Singerhoffstraße in Hombruch will seinen Vater finden, der bei der Gestapo in der Benninghofer Straße in Hörde inhaftiert war. Er hört von den Gerüchten. Er hört: „Bittermark, Rombergpark, Lastwagen, Schüsse, Hundegebell, verschüttete Bombentrichter“. Der junge Mann befürchtet, dass sein Vater von den Nazis ermordet worden ist. Er will Gewissheit und versucht, seinen Vater zu finden. Im Lehm eines zugeschütteten Bombentrichters beginnt er zu graben. Nach kurzer Zeit stößt er auf die Brust eines Menschen. Immer mehr Trichter werden danach geöffnet, immer mehr Tote geborgen. Sie sind erschossen,  verstümmelt und erschlagen worden.

Vor dieser erbarmungslosen und brutalen Mordmaschinerie wurden die Frauen und Männer im Keller der Gestapohölle in der Benninghofer Straße in Hörde zusammengepfercht. Viele Gefangene wurden noch vor dem Todestransport systematisch gefoltert, mit Stacheldraht und Bindedraht gefesselt und zu den Bombentrichtern in die Bittermark verschleppt. Gesetze der Moral und Menschlichkeit waren außer Kraft gesetzt, und die tödliche Angst vor der Zukunft trieb die faschistischen Tyrannen zu verzweifelten Taten gegen all diejenigen, von denen sie annahmen, sie würden sich an den braunen Gewaltherrschern rächen. Zwischen Trümmern und Mord arbeitete selbst in diesen Tagen noch ein pedantischer Büroapparat.

Zwölf Jahre hatte der Nationalsozialismus die größten Verbrechen begangen, die unsere Geschichte aufzuweisen hat. Im März und April 1945 fügte er ein letztes in Dortmund hinzu. Als Karfreitagsmorde gingen diese Verbrechen in die Geschichte ein, mit denen die Nazis noch kurz vor Kriegsende die Widerstandsbewegung zerschlagen wollten. Diese von einem zivilisierten Verhalten weit entfernte Barbarei der Gestapo war dennoch nicht nur eine Tat bloßer Willkür, sondern Ausdruck des Wesens des faschistischen Systems. Schriftliche Mordanweisungen der Reichsregierung waren dem Massaker vorausgegangen.

Sieben Jahre nach den Ostermorden begann im Jahre 1952 vor dem Dortmunder Schwurgericht der Prozess gegen die Täter dieses grausamen Verbrechens. Am 4. April 1952 erging das Urteil: Von den 28 Angeklagten wurden 15 freigesprochen! Einer der Beamten erhielt eine Zuchthausstrafe von 6 Jahren, die meisten der übrigen Verurteilten wurden mit durchschnittlich 6 Monaten Gefängnis bestraft, die durch die Untersuchungshaft meistens abgegolten war!

„Die Angeklagten hätten die Befehle ausgeführt“, so das Gericht wörtlich, „weil sie unter dem Militärstrafgesetz stehende Personen gewesen seien, denen zudem ein Notstand bei der Befehlsausübung zugebilligt werden müsse“. Die Richter des Landgerichtes vertraten die Auffassung, die Schuld an dem Verbrechen treffe allein den Vorgesetzten, der die Befehle zur Exekution gab. Dieser war jedoch bei dem Prozess nicht anwesend. Das Urteil mag ein Indiz dafür sein, dass in den fünfziger Jahren auch noch ehemalige Nazis in wichtigen Positionen des Landgerichtes beschäftigt waren und ihre Parteifreunde schonen wollten. Die braune Vergangenheit war längst nicht überwunden.

Heute sind wir hier am Mahnmal in der Bittermark zusammengekommen, um erneut an die grausamen Ereignisse zu erinnern und um der Opfer zu gedenken. Die Stadt Dortmund und die vielen antifaschistischen Organisationen haben in unserer Stadt eine „Kultur des Erinnerns“ geprägt, die  in diesem Ausmaße kaum anderswo zu finden ist. Und da möchte ich insbesondere auch die Arbeit in und mit der Steinwache einbeziehen, einer Mahn- und Gedenkstätte, die in besonderer Weise die Geschehnisse des Dortmunder Widerstandes repräsentiert und ein unvergleichbarer Ort der Erinnerung ist.

Ewiggestrige sind jedoch bestrebt, von den Ursachen des Faschismus und von dem unermesslichen Leid der Hitlerdiktatur und seiner Verbrechen in Deutschland abzulenken. Es gibt in unserem Land und anderswo in Europa neofaschistische Umtriebe, die nicht verharmlost und unbeobachtet bleiben dürfen. Wir müssen weiterhin, wie wir das insbesondere auch hier in Dortmund getan haben, uns gegen die Aufmärsche der Nazis wehren.

Staatliches Handeln gegen die Neonazis ist mehr als notwendig. Ihre Aufmärsche sind zu verbieten, ein neues Verbotsverfahren sollte auf den Weg gebracht werden. Es ist unerträglich, jedes Jahr von Neuem erleben zu müssen, dass  durch oberste Gerichtsentscheidungen die Verbotsverfügungen der Polizei und der Stadt verworfen werden und den Nazis erlaubt wird zu demonstrieren. Das kann auf Dauer so nicht bleiben. Nazis sind Verbrecher, denen wir uns in den Weg stellen müssen. Doch so lange die Regierenden in unserem Land sich mehr Sorgen um die Demonstrationsfreiheit für die Neonazis machen, als den Schutz der Bevölkerung und der Demokratie vor ihren Feinden zu garantieren, wird es nicht so leicht gelingen, eine Mehrheit für ein NPD-Verbot zu finden.

Vielleicht ist es das wichtigste Erbe der deutschen Geschichte, dass wir wissen, wozu Menschen fähig sind, die sich einer faschistischen Ideologie verschrieben haben, die ihren Gegnern die Menschenwürde nimmt. Unsere Vergangenheit können wir nicht mehr verändern oder gar bewältigen. Sie lastet auf vielen in unserer Gesellschaft. Gestalten können wir aber die Gegenwart und aus der Vergangenheit  für die Zukunft lernen.

Das Dortmunder Manifest „Von jung bis alt – gegen braune Gewalt“ ist beispielsweise eine jüngste Initiative gegen rechten Populismus und Demagogie, Diskriminierung, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus in Dortmund. Zu diesem Manifest haben sich viele Dortmunder Bürger, der Rat der Stadt und insbesondere auch junge Menschen bekannt. Ein junger Mann schreibt als Bekenntnis zu dem Manifest: „Ich habe nichts gegen freie Meinungsäußerung, aber Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen!“

Und zwei weitere Beispiele möchte ich nennen, die uns Mut machen und aufzeigen, was man tun kann. Die Aktion „90 Minuten gegen rechts“, mit denen die DGB-Jugend Schüler über faschistische Umtriebe aufklärt, verzeichnet einen Nachfragezuwachs. Die Gewerkschaftsjugend bietet Workshops zu den Themen rechte Symbole, Musik, Parteien, Argumente und rechte Szene an. Hier werden junge Menschen angesprochen, die wiederum eigene Fragen und Antworten erarbeiten.

Und eine andere Initiative von Jugendlichen, die gemeinsam in Auschwitz waren, möchte ich nicht unerwähnt lassen:  „Botschafter der Erinnerung“, eine Weiterentwicklung der Dortmunder Erinnerungsarbeit, durchgeführt vom Jugendring Dortmund in Zusammenarbeit mit anderen Vereinigungen und Unterstützung des Dortmunder Oberbürgermeisters, ist ein herausragendes Beispiel, wie man sich mit der NS-Vergangenheit auseinandersetzen kann. Und auch den Schülerinnen und Schülern der Geschwister-Scholl-Gesamtschule möchte ich meinen Respekt bekunden, dass sie heute die Gedenkveranstaltung mitgestalten werden und sich mit den Ereignissen 1945 auseinandergesetzt haben.

Auszüge aus dem Mahnruf der toten Frauen von Ravensbrück, geschrieben von Auguste Lazar, möchte ich zum Abschluss meiner Ausführungen zitieren:

„Schwestern, vergesst uns nicht,
vergesst nicht die Toten von Ravensbrück!
Wenn ihr uns vergesst, war unser Sterben umsonst,
umsonst die Tränen, die wir geweint,
umsonst die Qualen, die wir gelitten,
umsonst der Schweiß, der von uns geflossen,
in tiefer Erniedrigung, schrecklicher Angst,
das Grauen, der Tod.
Wenn ihr uns vergesst, war unser Sterben umsonst.“

Wir vergessen die Toten nicht. Wir gedenken der Opfer, und wir erinnern an sie. Wir rufen ihnen zu: „Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg! Ihr seid uns nicht vergessen!“

Vor uns liegt ein langer Weg. Ich hoffe und wünsche mir: ein Weg des Friedens, der Toleranz und der freundschaftlichen Verständigung unter den Menschen.

Geschichte bleibt Teil der Gegenwart

Grußwort der Bürgermeisterin Birgit Jörder  

Sehr geehrter Herr Söder,
liebe Schülerinnen und Schüler der Geschwister-Scholl-Gesamtschule,
verehrte Gäste aus dem In- und Ausland,
liebe Dortmunderinnen und Dortmunder,

in guter Tradition versammeln wir uns jedes Jahr am Karfreitag hier am Mahnmal in der Bittermark. Wir gedenken der Menschen, die noch in den allerletzten Kriegstagen durch nationalsozialistische Mordgesellen an diesem Ort umgebracht wurden. Fast 300 Frauen und Männer – Widerstandskämpfer, Kriegsgefangene, Verschleppte – Menschen aus Belgien, Frankreich, Jugoslawien, den Niederlanden, Polen, Russland und Deutschland – ihre genaue Zahl kennen wir nicht, von vielen nicht einmal den Namen.

Nur wenige Tage vor dem Einmarsch amerikanischer Truppen wurden sie aus dem Hörder Gestapo-Keller hierher verschleppt, ermordet und in Bombentrichtern verscharrt. Eilig machten sich ihre Mörder anschließend aus dem Staub. Die Brutalität und Sinnlosigkeit dieser Mordaktion in den letzten Stunden eines schon verlorenen Krieges erschüttert jedes Mal aufs neue. Soweit die Knechte des Terrors später vor Gericht gestellt wurden, beriefen sie sich auf Befehl und schuldigen Gehorsam. Man fragt sich noch heute, wie tief ein Mensch gesunken sein muss, um solchen Befehlen zu gehorchen.

Karfreitag ist der Tag der Trauer und Klage. Trauer und Klage schulden wir den Opfern, die hier ihr Leben ließen. Ich denke besonders an die vielen jungen Menschen, mit deren Tod an diesem Ort auch ihre Wünsche, Hoffnungen und Begabungen ins Grab sanken. Ich denke an ihre Angehörigen, die mit Ungewissheit, Schmerz und manch‘ bleibender seelischer Verletzung fertig werden mussten. Der Nationalsozialismus hatte nicht nur Europas Städte in Trümmer gelegt, er hatte auch in Kopf und Herz vieler Menschen schlimme Verheerungen angerichtet.

Wir Dortmunder stellen uns diesem finsteren Teil unserer Geschichte, mit Scham und mit Trauer, aber auch mit dem festen Willen, unseren Beitrag zu leisten, damit sich ein solches Grauen nicht wiederholen kann. Die Verbrechen vergangener Tage können wir nicht ungeschehen machen. Aber wir können und müssen die Verantwortung dafür übernehmen, dass sie nicht vergessen werden. Dass wir Lehren für den Schutz unseres Gemeinwesens daraus ziehen, besonders dann, wenn aufgeheizter Rassismus und Nationalismus ihre dumpfen Parolen grölen.

Nach dem zweiten Weltkrieg haben wir den Weg zu einem rechtsstaatlichen Gemeinwesen in einer Wertegemeinschaft freier Völker beschritten. Das war nur möglich, weil uns die Gegner von damals die Hand zur Versöhnung gereicht haben. Menschen, die jahrelang unter Terror und Gewaltherrschaft der deutschen Aggression gelitten hatten, waren bereit, die Zukunft Europas gemeinsam mit uns zu gestalten. Das allein erlegt uns schon die Verpflichtung zu einer Kultur verantwortungsvoller Erinnerung auf. Entschlossen treten auch wir  Dortmunder jedem Versuch entgegen, das schlimmste Kapitel deutscher Geschichte vergessen, verharmlosen oder relativieren zu wollen.

Das Mahnmal in der Bittermark wirkte bald nach seiner Errichtung über die Grenzen unseres Landes hinaus. Wir haben es dankbar als eine Geste der Verständigung empfunden, dass schon früh ehemalige Kriegsgefangene und Deportierte zu den jährlichen Gedenkstunden nach hier kamen und immer noch kommen. Ihnen möchten wir Erinnerung in Würde ermöglichen und mit ihnen gemeinsam das Gedenken an die Toten teilen.

Eine wichtige Rolle spielen dabei unsere französischen Freunde. Leider konnte niemand von ihnen dieses Jahr nach Dortmund kommen. Das fortschreitende Alter fordert da leider seinen Tribut. Besonders vermissen wir in diesem Jahr den Ehrenpräsidenten der Französischen Vereinigung der Arbeitsdeportierten, Herrn Jean-Louis Forest. Im Alter von 89 Jahren starb er Weihnachten vergangenen Jahres.

Als ehemaliger Arbeitsdeportierter setzte er sich schon früh für eine deutsch-französische Verständigung und Versöhnung ein. Nach ersten Kontakten 1956 wurde er zur treibenden Kraft für eine Beteiligung und Mitwirkung seines Landes an diesem Mahnmal. Mit auf seine Initiative hin übernahmen der französische Staat und die Vereinigung der Arbeitsdeportierten die Kosten für die Ausgestaltung der Krypta durch einen französischen Künstler.

Am Karfreitag 1958 war es dann soweit. Unter großer deutsch-französischer Anteilnahme wurde ein unbekanntes französisches Opfer des finalen Nazi-Terrors in der noch unfertigen Krypta zur letzten Ruhe gebettet. Anschließend übernahm Jean Louis Forest den Schlüssel zur Krypta als symbolischer Hüter dieses Ortes, der für ihn ausdrücklich immer ein Ort der Trauer und des Erinnerns für die Opfer aller Nationalitäten sein sollte. Heute ist die Krypta mit ausdrücklicher deutscher Zustimmung eine französische Enklave, also ein exterritoriales Stück Frankreich auf Dortmunder Boden. Das ist ein ganz besonderes Symbol für unsere Versöhnung und Freundschaft, nimmt uns zugleich aber auch in besondere Verantwortung.

Jean-Louis Forest hat sich um die französisch-deutsche Verständigung und Freundschaft in dieser Region hohe Verdienste erworben. Sein Leben ist beispielhaft für das Wirken vieler  Europäer, die als geschundene Opfer deutscher Aggression nach Kriegsende weitsichtig über Hass, Verletzung und Schmerz hinaus in die Zukunft dachten. Ohne Menschen wie ihn wäre das Haus Europa nie gebaut worden. Die Stadt Dortmund sieht in ihm einen besonderen Freund und ehrte ihn 1980 als ersten Ausländer mit dem Ehrenring der Stadt. Bis ins hohe Alter war er regelmäßiger Teilnehmer unserer jährlichen Gedenkveranstaltung. Jeder, der ihm bei dieser Gelegenheit begegnete, konnte spüren, wie wichtig ihm dieses gemeinsame Erinnern war. Ich erinnere an seine Worte zum 20. Jahrestag der Einweihung unseres Mahnmals:

„Dieser Jahrestag ist ein Zeichen des gemeinsamen Willens der Französischen Vereinigung der Arbeitsdeportierten und der Stadt Dortmund, in Ehrfurcht unseren toten Brüdern verbunden zu bleiben und stets wachsam zu sein, damit sich solche Gräuel nicht wieder ereignen.“

Sich erinnern und wachsam sein. Ein Plädoyer für Verantwortung und gegen Vergessen. Weitsichtige Verständigung und großmütige Versöhnung haben nach dem zweiten Weltkrieg den Weg zu einer Epoche der Vernunft geebnet. Vernunft, die Lehren aus der Vergangenheit zieht; Vernunft, die auf die Herrschaft des Rechts baut; Vernunft, die den Menschen als Mitmenschen achtet, dem man mit Respekt und Toleranz zu begegnen hat.

Geprägt war dieser Weg durch die persönliche schmerzliche Erfahrung der Zeitzeugen des nationalsozialistischen Terrors. Aber diese Zeitzeugen werden immer weniger. Umso wichtiger ist es, dass jüngere Generationen die Fackel der Erinnerung übernehmen und in die Zukunft weitertragen. Ich freue mich deshalb sehr, dass auch dieses Jahr wie schon in der Vergangenheit junge Dortmunderinnen und Dortmunder sich an dieser Feier beteiligen. Schülerinnen der Geschwister-Scholl-Gesamtschule und der Jugendchor „Teenclouds“ des MGV Brackel tragen zum würdigen Rahmen dieser Feierstunde bei, wofür ich ihnen sehr herzlich danken möchte. Junge Mitbürgerinnen und Mitbürger setzen damit für ihre Generation ein Zeichen.

Der dunkelste Teil unserer Geschichte darf nicht im Dunkel des Vergessens verschwinden. Das sind wir nicht nur den Opfern schuldig. Das sind wir uns selbst und unseren Nachfahren schuldig. Nur eine wache, verantwortungsvolle Auseinandersetzung mit unserer Geschichte schärft unsere Sinne für die allgegenwärtige Gefahr von Unrecht und sittlicher Barbarei. Der amerikanische Schriftsteller William Faulkner sagte einmal sehr treffend: „Geschichte ist nicht gewesen, Geschichte ist.“ In der Tat kann es für diese wie künftige Generationen keine Entwurzelung aus der Geschichte geben! Geschichte bleibt Voraussetzung und damit Teil der Gegenwart.

Die Lehren der Vergangenheit beherzigen und sie aktiv in die Gestaltung von Gegenwart und Zukunft einzubringen, das bleibt ständige Aufgabe. Intoleranz und Rassenwahn, die Arroganz des Besserwissens und Besserseins, die Verachtung des Andersdenkenden und Andersbetenden – all das war einst der Nährboden für die Verbrechen, deren Opfer wir hier betrauern.

Und leider muss man sagen: Die Gesinnung rassistischer und kultureller Überheblichkeit begegnet uns auch heute noch viel zu oft. Umso wichtiger ist es, dass dem schon die junge Generation das deutliche Zeichen entgegensetzt: Nicht mit uns! Waches Bewusstsein und bürgerschaftliches Engagement, ethisch begründetes Denken und Handeln, Respekt füreinander und Solidarität miteinander – das schützt und festigt unsere demokratische und rechtsstaatliche Ordnung und lässt dem Ungeist der Vergangenheit keine Chance. Das schulden wir denen, die wir hier betrauern.

Meine Damen und Herren, mit dem Mahnmal Bittermark haben wir in internationaler Zusammenarbeit eine würdige und bewegende Erinnerungsstätte geschaffen. Die Mahnung, die von hier ausgeht, hat nichts von ihrer Dringlichkeit verloren: Haltet die Erinnerung an die hier ermordeten Menschen wach, damit sich solche Verbrechen niemals wiederholen.

Erinnerung an Jonas Bleiberg

Beiträge der Jugendgruppe der SJD Die Falken Brackel auf dem Internationalen Friedhof


Erinnerung an Jonas Bleiberg aus Dortmund

Jonas Bleiberg, geboren in Polen im Jahre 1902, kam Anfang der 1930er Jahre nach Dortmund und wohnte dort zwischen Heiligegartenstraße und Leopoldstraße.

1938 wurden viele jüdische Polen in einem Transport an die deutsch-polnische Grenze gefahren. Leider wollten die Polen ihre Landsleute auch nicht haben, so dass Jonas einige Zeit im Niemandsland lebte. Jonas Bleiberg schlug sich aber wieder nach Dortmund durch. Wann er genau wieder in Dortmund war, können wir zur Zeit noch nicht sagen.

Jonas war Mitglied einer verbotenen Organisation, einer kommunistischen Organisation. Dies ist nur aufgefallen, weil er bei einer Hauskassierung beobachtet und anschließend denunziert wurde. Im doppelten Deckel seiner Taschenuhr wurden entsprechende Mitgliedsmarken gefunden.

Danach wurde Jonas Bleiberg von Dortmund zunächst in das Konzentrationslager Sachsenhausen gebracht. Anschließend war er noch in Buchenwald, wo er nach offiziellen Angaben am 16. März 1942 starb. Ob Jonas Bleiberg eines natürlichen Todes gestorben ist oder ob er ermordet wurde, ist noch nicht abschließend geklärt. Diesbezüglich werden wir in nächster Zeit mit dem Archiv in Buchenwald Kontakt aufnehmen.

Ob Jonas Bleiberg in Buchenwald oder woanders verbrannt wurde, ist auch noch nicht ganz klar. Wahrscheinlich aber in Weimar, da es im Jahre 1942 noch kein eigenes Krematorium im Lager Buchenwald gab. Die Urne mit Jonas Bleiberg wurde dann nach Dortmund überstellt, so dass er am 12. Juni 1942 beigesetzt werden konnte. Laut Angaben der Friedhofsverwaltung Dortmund wurde die Urne im September 1962 noch einmal umgesetzt, auf das Feld, wo sie sich heute noch befindet.

Wir, die Teens-Gruppe der Falken Brackel, sind durch einen Mitarbeiter des Internationalen Bildungs- und Begegnungswerks Dortmund auf Jonas Bleiberg aufmerksam gemacht worden. Er traf sich mit uns und erzählte uns einiges über Jonas Bleiberg und eine noch lebende Verwandte in Amsterdam. Mittlerweile haben wir ihr Fotos gemailt: Wie wir die Grabanlage vorgefunden haben und wie sie jetzt aussieht, nachdem wir sie mit ihrer Zustimmung gereinigt haben. Wir werden versuchen, viele Fragen, die wir haben, mit ihr zu erörtern, und wünschen uns, sie vielleicht einmal in Amsterdam besuchen zu können.


Das Ärgernis
von Erich Fried

Wendet euch nicht ab,
sondern schaut,
Ihr braven Bürger,
den jungen Neonazis,
die in eurer Stadt von neuem den Glauben
an den alten Irrsinn gelernt haben,
tief in die Augen.
Ihr schaut nicht genau genug hin,
wenn Ihr in diesen blauen oder braunen oder auch grauen Augen
nicht einen Augenblick lang euer eigenes Spiegelbild seht!


Als sie die Anderen holten
nach Martin Niemöller, evangelischer Theologe (1892-1944);
moderne Fassung der Droste-Hülshoff-Realschule aus dem Jahr 2009

Niemöller schrieb:

„Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist.“

Als die Neonazis in der Straßenbahn Ausländer anpöbelten, habe ich weggeschaut; ich war ja kein Ausländer.

„Als sie die Sozialdemokraten einsperrten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Sozialdemokrat.“

Als die Neonazis Behinderten den Eintritt in die Disco verweigerten, habe ich nicht protestiert; ich war ja nicht behindert.

„Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich nicht protestiert; ich war je kein Gewerkschafter.“

Als die Neonazis jüdische Mahnmale schändeten, habe ich mich nicht eingemischt; ich war ja kein Jude.

„Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.“

Als wir zu der Gedenkveranstaltung auf dem Ehrenfriedhof eingeladen wurden, haben wir spontan zugesagt, denn wir müssen gemeinsam, Jung und Alt, gegen Rechtsextremismus und Neonazis sein.

„Das Gegenteil von Liebe ist nicht Hass, sondern Gleichgültigkeit“

Die Rede von Ulrich Sander am  Karfreitag 2011 auf dem Internationalen Friedhof in Dortmund-Brackel

Elie Wiesel hat gesagt – und ich fand es auf einem Gedenkstein für Naziopfer in Minden: „Das Gegenteil von Liebe ist nicht Hass, sondern Gleichgültigkeit.“ Wir stehen hier vor der Informationstafel, die Auskunft gibt über das Schicksal derer, die hier begraben sind. 6.000 Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, zumeist aus Osteuropa, ließen im Krieg hier in Dortmund ihr Leben. Wer von den Dortmundern ihnen half – und das taten zum Glück einige – wurde hart bestraft. Doch die meisten halfen nicht. Sie hassten auch nicht. Sie waren gleichgültig.

Sie hatten nichts dagegen, dass die Zwangsarbeiter nicht in die Luftschutzkeller durften. Hauptsache sie selbst hatten Platz. Und so starben Tausende. Und viele Dortmunder wissen es heute gar nicht. Die ausgezeichnete Gedenkkultur in unserer Stadt, auch die Gedenkstätte Steinwache, bietet wenige Informationen über die Lage der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter. Es wird auch ausgespart, welche verbrecherische Rolle die Ruhrindustrie im Umgang mit diesen Menschen spielte. Als wir eine Mahntafel wie diese am Eingang des Stahlwerks am ehemaligen Emschertor in Hörde vorschlugen, dort wo die Reste eines „Arbeitserziehungslagers“ der Vereinigten Stahlwerke standen, die nun im Phönixsee versinken, da sagten uns die Stadtoberen diese Tafel zu. Doch der See entsteht, und die Tafel ist nicht in Sicht.

„Das Gegenteil von Liebe ist nicht Hass, sondern Gleichgültigkeit.“ Dieser Satz aus der Feder des Schriftstellers und Überlebenden von Auschwitz und Buchenwald kam mir in den Sinn, als ich in der BILD-Zeitung las: „Wir wollen ein deutliches Signal nach Osteuropa senden, um den weiteren Zuzug von Bulgaren und Roma zu verhindern. Dazu müssen wir die Haupteinnahmequelle trockenlegen.“ BILD schrieb den Spruch dem Sprecher einer Volkspartei zu. Osteuropäer und Roma, die einst millionenfach hierher gebracht wurden, die eine Haupteinnahmequelle des deutschen Kapitals wurden, um dann per Vernichtung durch Arbeit beseitigt zu werden, sie sind heute im freien grenzenlosen Europa nicht mehr willkommen? Als Torschützen für Borussia vielleicht, aber nicht als arme Leute. Wie kann man so über die Roma sprechen, die gleich den Juden dem Holocaust ausgeliefert waren?

Gestern wurde entschieden, den Rassisten Sarrazin in der SPD zu belassen. Die Begründung, die ein prominenter Kommunalpolitiker dazu gab, war diese: „Wir müssen die Ängste der Bevölkerung berücksichtigen.“ Zur Bevölkerung zählt er nur die Deutschen. Die Ängste der Nichtdeutschen, die Sarrazin auslöste, die sind den Leuten egal?

Ist es uns wirklich egal, wie es den anderen geht? Wer nicht unter Hartz IV fällt, geht nicht zur Montagsdemo. Wem keine Bomben auf den Kopf fallen, dem sind die deutschen und die NATO-Kriege in aller Welt egal?  Wir produzieren Waffen für den Rüstungsexport, es geht ja um unsere Arbeitsplätze. Bei anderen geht es um ihr Leben.

Ich möchte schließen mit einem anderen Ausspruch von Elie Wiesel: „Man muss Partei ergreifen. Neutralität hilft dem Unterdrücker, niemals dem Opfer. Stillschweigen bestärkt den Peiniger, niemals dem Gepeinigten.“ Schweigen wir nicht! Ergreifen wir Partei für die Flüchtlinge von Lampedusa, aber auch bei uns! Wir müssen uns auch immer wieder das Wort der Geschwister Scholl in Erinnerung rufen: „Zerreißt den Mantel der Gleichgültigkeit, den Ihr um euer Herz gelegt! Entscheidet euch!“

Rechtsentwicklung in Europa

Zusammenfassung des Vortrages von Dr. Ulrich Schneider, Generalsekretär der FIR, auf der Vollsitzung des Fördervereins Gedenkstätte Steinwache/Internationales Rombergparkkomitee am Gründonnerstag, dem 21. April 2011, in Dortmund

1. Die politische Situation in Europa wird durch eine zunehmende Rechtsentwicklung geprägt. Ausdruck davon sind Wahlergebnisse offen rassistischer und faschistischer Parteien in Europa und eine ideologische Offensive der Rechtskräfte, die mit einer Totalitarismus-Doktrin das historische Gedächtnis verändern und neue geschichtspolitische Orientierungspunkte setzen wollen.

In verschiedenen baltischen Republiken erleben wir die Umdeutung der faschistischen Kollaboration in „Freiheitskampf“. Insbesondere in Lettland und Estland können SS-verherrlichende Verbände ungehindert bzw. mit gerichtlicher Erlaubnis ihre Aufmärsche durchführen. In der West-Ukraine gilt Stepan Bandera, der Führer der Organisation Ukrainischer Nationalisten, die mit der faschistischen Wehrmacht kollaborierten und an Massenverbrechen in Lwow/Lemberg beteiligt waren, als „Nationalheld“.

2. Bei nationalen Parlamentswahlen in Ungarn (FIDESZ und JOBBIK – der gewalttätige Arm), Belgien (nicht mehr Vlaams Belang, dafür Flämische Nationalisten), Schweden (Schweden-Demokraten mit Verbindung zu gewalttätigen Rassisten) und den Niederlanden (Geert Wilders) verzeichneten rechtspopulistische und neofaschistische Parteien erschreckende Zuwächse. Solche Erfolge werden von rechten Gruppierungen und Parteien in anderen Ländern Europas analysiert, aufgenommen und modifiziert.

Die neue Attraktivität einer Marine Le Pen (Front National) zeigt, dass moderater Faschismus ähnlich wie in Italien (Fini – Alleanza nazionale) eine hohe Akzeptanz im gesellschaftlichen Mainstream besitzt. Welche gesellschaftliche Wirkung Rechtspopulismus und insbesondere Antiislamismus entfalten kann, sehen wir an dem Abstimmungsverhalten in der Schweiz (SVP-Blocher, Minarett-Verbot, Waffenbesitz etc.)

Es gibt Bestrebungen zur Vernetzung von rechtspopulistischen und neofaschistischen Strukturen auf europäischer Ebene (Dresden-Teilnahme/“Tag der Ehre“ in Budapest). Sie werden durch den jeweiligen Nationalismus bzw. Rassismus begrenzt. (Rumänien und Italien/Italien und Südtirol/Haltung zu Israel etc.)

3. In dieser gesellschaftlichen Situation versuchen die politisch hegemonialen Rechtskräfte in Europa, z.B. die Europäische Volkspartei (ihr gehören aus Deutschland die CDU und CSU an), zusammen mit nationalistischen Kräften in mittel- und osteuropäischen Staaten, durch die Etablierung neuer Gedenktage wie dem 23. August als „Gedenktag gegen Totalitarismus“, die in den 80er Jahren zurückgedrängte Totalitarismus-Doktrin zu reaktivieren. Nicht die Erinnerung an den faschistischen Terror und den antifaschistischen Widerstand, sondern die Gleichsetzung von Faschismus und sozialistischen Herrschaftsformen soll das Geschichtsbild Europas prägen.

Damit wird der europäische geschichtspolitische Konsens der 90er Jahre nach rechts verschoben. Beispiele auf der Ebene des Staatshandelns: Polen, Ungarn, Tschechische Republik – Strafbarkeit des Zeigens „kommunistischer Symbole“; Ungarn – Gesetz gegen Auschwitzleugnung durch „Verbot der Leugnung der kommunistischen Verbrechen“ ergänzt; Kroatien – neues Gesetz über den Schutz der Gräber der „kommunistischen Gewaltherrschaft“; Bulgarien – Verleugnung der Geschichte der monarcho-faschistischen Herrschaft.

4. Gegen solche geschichtspolitischen Vorstöße können wir nicht alleine erfolgreich sein. Dazu benötigen wir Partner in unserem Land und als antifaschistische Organisationen mit lange bestehenden internationalen Kontakten Mitstreiter in ganz Europa, die sich ebenfalls aktiv in solche Auseinandersetzungen einbringen.

Unser Ziel muss es sein, offensiv gegen die Versuche einer Etablierung der Totalitarismus-Doktrin als erkenntnisleitende These der Geschichtssicht vorzugehen. Dazu sollten wir, auch gegen den ideologischen Mainstream, die Erklärung des Europäischen Parlaments zum Schutz der Gedenkstätten und gegen die Vermischung der KZ-Geschichte mit jeglichen Formen der Nachnutzung vom 11. Februar 1993 verteidigen.

In der praktischen Geschichtspolitik auf internationaler Ebene sollten wir die Initiativen der FIR und deren Projekte unterstützen, unter anderem das Ausstellungsprojekt der FIR im Herbst 2011 zum Europäischen Widerstand und das geplante Internationale Jugendtreffen der FIR im Mai 2012 in Auschwitz.