Die Rede von Gisa Marschefski, Karfreitag 2006

Karfreitag 1945

Von der Bomben Wucht zerrissen
stöhnt der Wald in stummer Qual.
Stahl und Bäume, fest verbissen,
streichelt sanft ein Sonnenstrahl.

Aus dem Grund der Bombentrichter
steigt das Grauen einer Nacht,
die als Zeuge vor dem Richter
ihre stumme Aussag’ macht.

Was in dieser Nacht geschehen,
ist so voller Hass und Graus,
wie’s die Welt noch nie gesehen;
selbst die Hölle speit es aus.

Auf des Waldes dunklem Pfade
schleppten Bestien hinfort
Menschenleiber vor dem Rade
des Sadismus hin zum Mord.


Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Langemeyer,
sehr geehrter Herr Piat,
verehrte Teilnehmerinnen und Teilnehmer dieser Gedenkkundgebung!

Die von mir vorgetragenen Zeilen stammen aus einem Gedicht des Dortmunder Antifaschisten Karl van Haut. Er hat es geschrieben, kurz nachdem die Ermordeten in den Bombentrichtern aufgefunden wurden. Er hatte in mehrfacher Hinsicht eine besondere Beziehung zu den Ermordeten, derer wir heute gedenken. Er war, wie die meisten der Toten, Arbeiter, Bergmann auf einer Dortmunder Schachtanlage, also Kumpel, wie es im Sprachgebrauch des Ruhrgebietes hieß. Kumpel meines ermordeten Vaters, Kumpel von Karl Altenhenne, Gustav Budnick und Karl Schwartz, um nur einige der namentlich bekannten Opfer der Gestapo zu nennen.

Die besondere Beziehung bestand auch darin, dass fast alle deutschen Opfer der Karfreitagsmorde von1945 gemeinsam mit vielen Gleichgesinnten Widerstand gegen die 1933 errichtete Hitlertyrannei geleistet hatten. Dafür wurden sie von den Schergen des Nazisystems mit Folter, Zuchthaus und KZ-Haft bestraft und viele, allzuviele von ihnen wurden so, wie Karl van Haut es in seinem Gedicht beschreibt, umgebracht. Konnten sie schon nicht den Machtantritt der Hitlerclique 1933 verhindern, so wollten sie doch in der Folgezeit erreichen, dass Deutschland und Europa von einem deutschen Eroberungskrieg verschont blieb.

Das Streben der Widerstandskämpfer nach Frieden und Völkerverständigung war sehnsuchtsvoll und großartig, wurde aber von den Stiefeln der Hitlerschergen brutal und grausam zertreten. Zuerst Deutschland, dann wurden fast alle Länder Europas Opfer der großdeutschen Wahnidee Hitlers und seiner braunen Gefolgschaft.

Das, was die deutschen Antifaschisten seit 1933 erfahren und erlitten haben, mussten ab September 1939, nach dem Überfall Hitlers auf Polen, auch Millionen und Abermillionen von Menschen in den von der deutschen Naziwehrmacht okkupierten europäischen Ländern erfahren und erleiden. Tausende, ja Millionen von Frauen und Männern wurden in Gefangenschaft genommen, zur Zwangsarbeit verschleppt und insbesondere von den großen deutschen Rüstungskonzemen durch Zwangsarbeit ausgebeutet.

Die Zahl jener Menschen, die als Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter ums Leben gebracht wurden, wird sich wohl nie mehr genau ermitteln lassen. Wir wissen aber, dass allein 5.000 sowjetische Kriegsgefangene und zur Zwangsarbeit verschleppte Frauen, Männer und Kinder aus der Sowjetunion auf einem großen Friedhof in Dortmund-Brackel, am Rennweg, ihre letzte Ruhestätte haben.

Hier in der Bittermark, im Rombergpark und auf den Bahngleisen in Hörde wurden noch wenige Tage vor ihrer Befreiung 300 Zwangsverschleppte und Kriegsgefangene aus sechs europäischen Ländern mit ihren deutschen Gesinnungsfreunden bestialisch ermordet. Zwei jüdische Frauen, die sich bis dahin vor den Häschern der Gestapo verborgen gehalten haben, wurden ebenso ermordet wie christliche, sozialdemokratische und kommunistische Nazigegner.

Mit Hilfe der nationalsozialistisch-rassistischen und antisemitischen Ideologie vom angeblichen „deutschen Herrenmenschen“ wurden Millionen und Abermillionen Menschen, die nicht in dieses Muster der Naziideologie passten, zu „Untermenschen“ erklärt und ermordet. Es wurde das Wort vom „unwerten Leben“ in den Sprachgebrauch eingeführt. Kranke, hilfsbedürftige Menschen wurden ums Leben gebracht, weil sie für die sogenannte „deutsche Volksgemeinschaft“ unnötiger Ballast seien. Nicht weit von hier, auf dem Gelände der Landesklinik in Aplerbeck, befindet sich ein Mahnmal für diese heimtückisch ums Leben gebrachten kranken Menschen.

Es bleibt das ewige Verdienst der Widerstandsbewegung, gegen diese menschenverachtende Ideologie und Praxis gekämpft zu haben. Unter großen Opfern haben die Widerstandskämpfer, haben die Völker Europas und die Armeen der Anti-Hitler-Koalition das zutiefst unmenschliche System des Faschismus besiegt. Zu ihnen gehören die Frauen und Männer des Karfreitag 1945. Wir sind ihnen dankbar dafür und sollten ihr Wirken und ihren Tod als Vermächtnis an uns Lebende betrachten.

Obwohl das „Grauen einer Nacht“, wie Karl van Haut es ausdrückte, erst 61 Jahre zurückliegt, sind in unserem Lande Töne zu hören, die uns sehr stark an das erinnern, von dem wir meinten, dass es 1945 vorüber sei: „Deutschland den Deutschen“, „Ausländer raus“, „Deutsche zuerst“ und andere fremdenfeindliche Parolen und Aktivitäten zeugen von chauvinistischer Gesinnung, Intoleranz gegenüber Fremdartigem, gegenüber bei uns lebenden Menschen mit Migrationshintergrund und anderen religiösen- und Lebensgewohnheiten sind allerorten spürbar.

Höchst seltsam und sehr verdächtig klingt mir die Forderung von Parteien und Politikern in den Ohren, wir brauchten eine „Leitkultur“. Wir sollten angesichts der Erfahrungen der Geschichte aufpassen, dass aus einer wie auch immer gearteten „Leitkultur“ nicht eine Kultur des Leids für die Minderheiten in unserem Land wird. Eine solche  „Leitkultur“ würde auch vor der Mehrheit der Bevölkerung in unserem Land nicht Halt machen. Anstatt über „Leitkultur“ zu schwafeln, wäre es besser, jene Kräfte zu unterstützten, die sich aktiv gegen Neonazismus, für Völkerverständigung und für friedliches Nebeneinander aller hier lebenden Menschen einsetzen.

Anstatt solcher propagandistischer, nach Chauvinismus riechender Schlagworte wie „Wir sind Deutschland“ oder „Du bist Deutschland“ sollten wir uns die Ideen des internationalen antifaschistischen Widerstandskampfes zueigen machen und verbreiten: Völkerverständigung, Toleranz  gegenüber Minderheiten, Solidarität mit den Schwächsten in unserer Gesellschaft, das haben uns die Ermordeten des Karfreitags vorgelebt.

Herr Oberbürgermeister, Sie gestatten, dass ich aus einer Rede zitiere, die Sie vor einigen Wochen bei einer Feierstunde im Rathaus gehalten haben. Sie sagten damals unter anderem: „Die Bittermark ist ein Teil der Geschichte unserer Stadt, und der Karfreitag in der Dortmunder Bittermark ein Blick zurück in Trauer“. Und weiter sagten Sie: „Der Dortmunder Karfreitag in der Bittermark ist aber gleichzeitig ein Ort des Zusammenfindens von Menschen aus verschiedenen Nationen, die hier alljährlich bekennen: Wir wollen in Frieden, Respekt und in Achtung vor den Anderen gemeinsam miteinander leben. Deshalb ist die Bittermark auch ein Ort, der Mut, Vertrauen und Kraft schenkt. Die Bittermark ist das Gewissen der Stadt.“

Liebe Bürgerinnen und Bürger, ich rufe sie auf, das „Gewissen Bittermark“ wachzuhalten und weiterzutragen an die Menschen in dieser Stadt, in die Schulen, in die Betriebe und Gewerkschaften, in die Parteien, Verbände, Vereine und Religionsgemeinschaften. Sorgen wir gemeinsam dafür, dieses Gewissen zu schärfen, damit in diesem Lande nie wieder Unmenschlichkeit die Menschlichkeit besiegt!

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

 

 

Auschwitzüberlebende Van der Hoek-de Vries zur neuen Präsidentin des Internationalen Rombergpark-Komitees gewählt

Das Internationale Rombergparkkomitee in Dortmund traf sich am Gründonnerstag, dem 13. April 2006, zu seiner Jahresversammlung, um am Karfreitag, dem 14. April, an den Gedenkveranstaltungen für die Opfer der Dortmunder Karfreitagmorde 1945 mitzuwirken. Diese städtische Gedenkkundgebung vereinte über 1500 Menschen.

Im Mittelpunkt der Jahresversammlung stand das Thema „Gegenwart und Zukunft des Gedenkens“. Referent war Dr. Hans Coppi (Historiker, Berlin), dessen Forschungsschwerpunkt der Widerstand der Arbeiterbewegung ist. Coppi wurde 1942 in einem Berliner Frauengefängnis geboren; kurz danach wurden seine Eltern Hans und Hilde Coppi als Mitglieder der Widerstandsbewegung „Rote Kapelle“ hingerichtet. Er hat sich auf einer Abendveranstaltung in der Gedenkstätte „Steinwache“ den Fragen interessierter Menschen gestellt.

Dort wurde auch der Film „Wahrzeichen ohne Gedenken“ über das Kriegsgefangenenlager Stalag VI D in der Westfalenhalle präsentiert. Die Historikerin Regina Mentner (Dortmund) hat den Forschungsschwerpunkt Westfalenhallen-Stalag, und sie hat den Film erläutert. Auch die ehemaligen NS-Opfer Celine van der Hoek-de Vries (Auschwitzüberlebende aus Amsterdam) und Valentina G. Sushchenko (Moskau, ehemalige Zwangsarbeiterin in der Westfalenhütte) waren anwesend.

Celine van der Hoek-de Vries wurde zur neuen Präsidentin des Internationalen Rombergparkkomitees gewählt. Mehr über die neue Präsidentin unter http://www.nrw.vvn-bda.de/texte/0116_celnie_van_der_hoek.htm

Aus dem Referat von Dr. Hans Coppi:

Keinen Schlussstrich und keine Täter-Opfer-Gleichsetzung zulassen

Vor dem Hintergrund der (Opfer-)Debatten um den 8. Mai 2005 haben wir der Frage nachzugehen, inwieweit die Erinnerung an die Opfer des Faschismus in das kollektive Gedächtnis der Deutschen eingegangen ist, ob die Gedenkkultur den Opfern gerecht wird und sie dem Ausmaß der Verbrechen angemessen ist. Und wie sollte eine Erinnerungskultur aussehen, die zu einer Perspektive einer emanzipativen Gesellschaft beiträgt?

Auf den ersten Blick scheint es keinen Mangel an Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus zu geben. 60 Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus gibt es nun endlich ein Holocaust-Mahnmal in der neuen alten Hauptstadt. Anlässlich der wichtigen Gedenktage (27. Januar, 8. Mai, 9. November…) gibt es offizielle Gedenkveranstaltungen. Regelmäßig gibt es Wettbewerbe für Jugendliche, die zur Beschäftigung mit dem Thema anhalten.

Dem gegenüber steht allerdings eine Gleichsetzung von Tätern und Opfern, wie sie sich am deutlichsten in der Berliner Neuen Wache äußert, die „allen Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft“ gewidmet ist. Die Debatte um die Friedenspreisrede von Martin Walser, die Schlussstrichdebatte um die Entschädigung der Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen, die Legitimierung des Kosovo-Krieges mit Auschwitz oder die Gedenkveranstaltungen anlässlich der Jahrestage der Bombardierung deutscher Städte sind weitere negative Beispiele.

In der Gesamtschau muss man zu der Einschätzung kommen, dass die offiziellen Gedenkveranstaltungen vielfach den Opfern nicht gerecht werden und ein verzerrtes Bild vom Nationalsozialismus zeichnen.

Diese „Geschichtsaufarbeitung“ ist geprägt von dem Interesse Deutschlands, endlich einen Schlussstrich unter die Geschichte ziehen zu können und als geläuterter Staat in der internationalen Staatenkonkurrenz eine führende Position einnehmen zu können. So muss also das Gedenken notwendig – weg von der Erinnerung an das größte Verbrechen an der Menschheit –  zur bloßen Routine im Sinne des Schlussstrichs werden. Dieser Gedenkroutine gilt es etwas entgegenzusetzen. Wir brauchen ein Gedenken, das in dem Geist der Forderung, dass es nie wieder geschehe, steht und die historischen Kausalitäten benennt. Dabei sollen, so lange noch Zeitzeuginnen und Zeitzeugen am Leben sind, diese zu Wort kommen.

Ansonsten muss ein Paradigmenwechsel stattfinden, da der Fokus nicht mehr auf den Erinnerungen der Überlebenden liegen kann. Das bedeutet, dass die Ereignisse den nachfolgenden Generationen nahegebracht werden müssen, auf dass diese die Wiederholung derartiger Verbrechen zu verhindern wissen und in Richtung einer emanzipativen Gesellschaft streben. In diesem Sinne muss Gedenkkultur also aus Dokumentation, fortwährender Erinnerung und Prävention bestehen.“